Wie funktioniert Lesen?

 

0 Einleitung

1 Methode und Modell der Beobachtung

2 Prozesse der Wortdecodierung

3 Lexikalische Strukturen und der Zugriff darauf

4 Buchstabenweises Prozessieren

5 Wie ist Wissen organisiert?

6 Syntaktische Analyse

7 Semantische Analyse

8 Referentielle Repräsentation = Textverstehen

9 Wie der Leser Mehrdeutiges erkennt

10 Textsorten

11 Lesen und Lernen

12 Lesestörungen Aphasie und Dyslexie

13 Lesen als systemischer Prozess







0 Einleitung

Kognition ist Informationsverarbeitung. Den psychologischen Aspekten der Kognition - wahrnehmen, aufnehmen, vorstellen, verstehen, erinnern, schlussfolgern, Problem lösen, planen, entscheiden -, entsprechen psychologische Aspekte des Lesens. Deshalb ist die Leseforschung völlig zu recht in der Kognitionspsychologie beheimatet.

Man kann drei Schwerpunkte setzen:

  • Wie werden Worte erkannt? (Wortwahrnehmung, Wortdecodierung - Transformation gedruckter Zeichen in Sprache)
  • Wie werden diese Worte abgebildet? (mentale Repräsentation, Transformation von linguistischen Zeichen in symbolische Repräsentation)
  • Wie werden sie verarbeitet und weiterverarbeitet? (Verstehen, Lernen, Erinnern)

Lesen ist auch ein kognitiver Prozess, der beinhaltet, welche Informationen im Text Prozesse auslösen, wie lange der Prozess dauert und welche Informationen während des Prozesses benutzt werden, was wahrscheinliche Quellen für Fehler sind und was der Leser gelernt hat, wenn der Prozess am Ende ist.

Allerdings: Ist die Schrift erst einmal transformiert, sind doch eher nichtlesespezifische Aspekte der Kognition involviert, die den Komplex Denken und Sprechen betreffen und auch auftreten, wenn der Mensch die Sprachinformation nicht liest, sondern hört.

Das Spezifische am Lesevorgang ist sicherlich die Wahrnehmung des Textes, noch eher dessen Decodierung:

Es wird auf visuelle und/oder phonetische, in jedem Falle lexikalische, syntaktische und semantische Verzeichnisse im Gehirn zurückgegriffen (Wortform --> Wortbedeutung). Außerdem ordnet der Leser den Text in sein individuelles Wissen von der Welt ein (referentielle Repräsentation).

Das ist somit das Faszinierende am Lesevorgang, wie wir es formulieren möchten: Leblose und quasi zeitlose Buchstaben werden aufgenommen und umgewandelt in eine aktuelle symbolische mentale Struktur. Was wiederum vielfältigste, den gesamten psychischen Apparat betreffende Reaktionen evozieren kann!

Bevor wir aber Konsequenzen beschreiben, kommen wir nicht umhin, die Wahrnehmung zu diskutieren. Will man die Verarbeitung von Informationen beschreiben, ist zunächst einmal wichtig zu wissen, auf welche Weise Informationen überhaupt aufgenommen werden.

Es ist uns ein Bedürfnis, unsere kritischen Zweifel in diesem wichtigen Aspekt darzulegen, aus dem ja alle anderen Aspekte folgen und die wir unter dem Licht dieser kritischen Zweifel sehen - weil die Beobachtung der Wahrnehmung das empirische Material für alles andere liefert.


1 Methode und Modell der Beobachtung

Wie und unter welchen modellhaften Voraussetzungen wird das empirische Material gewonnen?

Die klassische kognitive Methode besteht darin, Menschen gezielt bestimmten Situationen auszusetzen und sie dann zu beobachten. Dies wird beim Beobachten von Lesern nahezu ausschließlich mit der Methode der Augenbewegungsmessung vollzogen; Reaktionszeitsmessungen sind darin integriert. Inzwischen sind die entsprechenden Apparaturen vom finanziellen Aspekt her weithin erschwinglich.

"Eye movement"-Untersuchungen wurden bereits vor über 100 Jahren ausgeführt (also zu einer Zeit, in der auch die Introspektion nach Gründervater Wundt noch gängige Methode war). Dabei fand man bald heraus, dass Leser durchschnittlich etwa eine Viertelsekunde bei jedem Wort verharren, was eine durchschnittliche Lesegeschwindigkeit von vier Wörtern pro Sekunde = 240 Wörter pro Minute (WpM) ergibt.

Der Punkt der Fixation ist im ersten Drittel des Wortes (bei Sprachen, die von links nach rechts gelesen werden).

Allerdings erfolgen die Sprünge von Wort zu Wort (Saccaden) nicht immer von links nach rechts, sondern auch zurück im Text ("rückwärtsgerichtete Saccaden"). Zudem verweilen die Augen unterschiedlich lange auf dem jeweiligen Wort, d. h. sie fixieren es mehrmals ("gaze").

Daraus werden auch Rückschlüsse gezogen auf die Schwierigkeit des Textes und die Lesefähigkeit des Lesers. Es lässt auch darauf schließen, dass Leser versuchen, einen Satz Wort für Wort zu verstehen ("immediate interpretation") und nicht abwarten, dass sich der Sinn aus dem Zusammenhang ergibt ("wait-and-see strategy").

Unklar ist jedoch, wie viel der Mensch überhaupt wahrnimmt, wenn er auf einen Text blickt. Das heißt, wie groß seine jeweilige Sehfläche pro Fixation ist, aus der er beim Lesen Informationen zur Weiterverarbeitung entnimmt. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass die Leseblickfläche ein Wort breit ist.

Hierin steckt zunächst eine Reduzierung im Modell: Die Leseblickfläche wird als rechteckige, zumindest gerade/lineare Form modelliert, obwohl Blickflächen bekanntlich elliptisch sind. Zudem werden wichtige Faktoren nicht berücksichtigt: Der Abstand der Augen vom Text und die Größe der Schriftzeichen.

Selbstverständlich ist es üblich, dass man in der Modellbildung auf Details verzichtet. Man kann Faktoren wie Kontrast, Druckqualität etc. getrost vernachlässigen und von optimalen Bedingungen für die Wahrnehmung ausgehen.

Aber die Größe der Blickfläche ist kein Detail. Sie ist in jedem Falle abhängig vom Leseabstand (je größer der Abstand, desto größer die Blickfläche) und von der Größe der Buchstaben (je kleiner, desto mehr im Blick). Diese Faktoren werden allerdings nicht erwähnt.

Die Modellvorgabe "ein Blick - ein Wort" zieht außerdem die unterschiedliche Länge von Wörtern nicht angemessen in Betracht. Daraus entsteht die allgemein geläufige Hypothese, dass beim Lesen viele Wörter übersprungen werden ("word skipping").

Ein Beispiel: Der Satz "Er ist am Frühstücken." Misst man die Augenbewegungen beim Lesen dieses Satzes, erhält man meist das Ergebnis, dass lediglich das Wort "Er" und das Wort "Frühstücken" fixiert wurden. Möglich ist auch das Ergebnis, nur das Wort "Frühstücken" sei fixiert worden. In jedem Falle: Die "nicht fixierten" Wörter wertet man als "übersprungen".

Aus der empirischen Auswertung dessen folgt eine bemerkenswerte Annahme, die an vielen Stellen in der Literatur, auch in anderen Disziplinen wie der Linguistik, zu finden ist: Übersprungen werden beim Lesen (nicht beim "überfliegenden Lesen", "Querlesen" o. ä.) etwa 17 Prozent der Inhaltswörter wie Substantive, Verben, Adjektive und zirka 62 Prozent der Funktionswörter, also zum Beispiel Artikel und Konjunktionen. Dies wird damit erklärt, dass viele Wörter beim Lesen "vorausgesagt" werden können.

Dies würde aber letztlich eine Verarbeitung von Informationen implizieren, die gar nicht fixiert/aufgenommen worden sind. Oder wie sonst kann der Leser z. B. in zwei von drei Fällen auf Unterscheidungen wie "ein Auto/das Auto" verzichten? Wie kann er auf jedes fünfte Nomen verzichten?

Wir fragen auch: Wenn lange Worte wie "Frühstücken" mit einem Blick aufgenommen werden können, warum sollten dann nicht auch ähnlich lange Wortgruppen wie "er ist am" mit einem Blick aufgenommen werden können?

Wir stellen die These auf: "Übersprungene" Wörter werden nicht übersprungen, sondern als Einheit, auf einen Blick mit anderen Wörtern aufgenommen. Und zwar geschieht dies umso intensiver, je größer die Lese- und Spracherfahrung des Lesers ist, je mehr Wortgruppen sein mentales lexikalisches Lexikon bereits gespeichert hat.

Hat der Leser jedoch noch kaum Leseerfahrung (z. B. im Grundschulalter), hat er erst wenige Wortgruppen gespeichert und muss sämtliche Wörter fixieren. Genau dies belegen entsprechende Messergebnisse der Augenbewegungen beim Lesevorgang von Grundschülern.

Unterstützung für unsere These finden wir in der Literatur darin, dass ein "paralleles Prozessieren" zumindest von einzelnen Buchstaben eines Wortes nicht ausgeschlossen werden kann. Warum sollte dann ein paralleles Prozessieren von mehreren kurzen Wörtern ausgeschlossen sein? Wenn sich das Wort "Frühstücken" parallel prozessieren lässt, sollte sich auch die Wortgruppe "Er ist am" parallel prozessieren lassen.

Bezüglich der kognitiven Wahrnehmung und Aufnahme beim Lesen - aus der ja alle anderen kognitiven Prozesse folgen - gibt es einen weiteren Punkt, auf den wir hinweisen müssen. Zur Bestimmung der Größe des Wahrnehmungsfelds Leseblickfläche benötigt man nicht nur den Leseabstand, sondern auch die Angabe, wie viel Grad aus dem Gesichtsfeld, das 170 Grad beträgt, für das Lesen genutzt werden.

Als sicher gilt, dass die Fovea (1 bis 2 Grad) ausreichende Informationen zur Identifizierung von Schriftzeichen (= Lesen) liefert. Als sicher gilt auch, dass die Perifovea nicht zum Lesen genutzt werden kann.

Strittig ist der Bereich dazwischen, die Parafovea (zirka 5 Grad um den Bereich des zentralen Sehens herum). Inzwischen mehren sich wieder Untersuchungsergebnisse, dass mit der Parafovea Informationen aufgenommen werden können. Das Problem ist, dass man physiologisch offenbar keine genaue Grenze zwischen den beiden Bereichen findet, sondern einen fließenden Übergang.

Aber schon näherungsweise sind die Unterschiede beträchtlich. Setzen wir einen üblichen Leseabstand von 30 Zentimetern an und den Mittelwert der Fovea auf 1,5, hat die foveale Blickfläche einen Durchmesser von:

30 x tan 1.5 ° = 0,7 Zentimeter.

In diesem Fall wäre das gängige "Ein-Blick-ein-Wort"-Modell hinfällig, sofern man keine Buchstabengrößen voraussetzt, für die es eine Lupe braucht. Denn die meisten langen Wörter sind gedruckt länger als 0,7 Zentimeter.

Oder man nimmt einen größeren Leseabstand ein, dann steigt die "perceptual span" von 7 Millimetern erheblich an. Genau dies geschieht in der Laborsituation von Augenbewegungsmessungen (vgl. CARPENTER/JUST, Abb. 2.9, S. 59). Aber solche Leseabstände kommen in der Lesepraxis eher selten vor.

Parafoveal wäre die Blickfläche, wieder bei einem realistischen Abstand von 30 Zentimetern, zirka 2,6 Zentimeter "breit". Zusätzliche Informationen werden offenbar aufgenommen, "but part of reading seems to involve blocking out this unwanted information", teilte uns MCKONKIE 1999 mit.

Wenn man ein parafoveales Prozessieren annimmt, ist strittig, wie scharf der Blick in diesem Bereich ist, welche Informationen die parafoveale Blickfläche dann liefert: Lediglich Informationen über Kontraste, Wortgrenzen - oder zusätzlich semantische Informationen?

Damit sind wir beim nächsten Problem angelangt. Hat die Blickfläche einen Durchmesser von 2,7 Zentimetern, und ist sie nicht rechteckig, sondern elliptisch, nimmt man Informationen von Wörtern auf, die über, unter und neben dem aktuell fixierten Wort plaziert sind. Wir meinen daher, es gibt berechtigte Zweifel an der weithin gängigen These "Ein Blick getan, ein Wort wahrgenommen".

Somit wären auch gängige Rückschlüsse u. a. auf die Schwierigkeit eines Wortes und die bisher kaum mehr als eine Dichotomie darstellende Unterscheidung "poor reader/good reader" nicht mehr zu leisten:

Zum Beispiel wird ein gaze (Mehrfachfixation) bei einem Wort so interpretiert, dass das Wort "schwierig" sei, der Leser das Wort nicht "gut" lesen kann und es sich daher mehrfach anschauen muss.

Doch im Augenblick der Mehrfachfixation sieht der Leser eben auch benachbarte Wörter: über, unter und neben dem Wort. Ein zu geringer Zeilenabstand im Text könnte daher genauso gut ein Grund für einen gaze sein wie die Annahme, der Leser sei ein "poor reader".


2 Prozesse der Wortdecodierung

Eine bekannte Hypothese, die Eye-Mind-Hypothese, besagt: Sobald ein Wort fixiert ist, steht es für die Wortdecodierung und die Entschlüsselung der Wortbedeutung zur Verfügung. Die "immediate interpretation" ist zunächst einmal ein praktikabler Ansatz.

Wie geschieht sie? Einig ist man darin, dass zunächst einmal eine visuelle Analyse erfolgt. Dann soll auf ein lexikalisches Lexikon zugegriffen werden.

Für die nötigen Prozesse werden zwei Möglichkeiten diskutiert:

  1. Phonetischer Zugang: Zeichen-in-Klang-Umwandlung -> phonetisches mentales Lexikon -> Output
  2. Direkter visueller Zugang: visuelles mentales Lexikon -> Output

Das geschieht ausschließlich, parallel und/oder abwechselnd; je nach Hypothese. Hier drückt sich die schwierige Frage aus, wie Informationen im mentalen Lexikon gespeichert werden, sprachlich oder bildhaft.

Außerdem muss ein spezifisches Phänomen des Lesens berücksichtigt werden, das zwar bereits vor über 100 Jahren durch Kehlkopfmessungen entdeckt wurde, aber nicht allgemein bekannt ist: Beim Lesen spricht man innerlich mit. Es werden Zeichen in Klang umgewandelt, CARPENTER/JUST z. B. nennen dies einen "sprachbasierten Code".

Dieser Code könne vor und nach dem Zugriff auf das lexikalische Lexikon hergestellt werden.

Als "prelexikalischer" Code gibt er dem Leser somit einen alternativen Zugriff (alternativ zum rein visuellen Zugriff) auf das lexikalische Lexikon. Wenn das gedruckte Wort unbekannt ist. Der Leser kann das gedruckte Wort in das gesprochene Äquivalent rekodieren und die Bedeutung in oraler Form ableiten.

Der nachlexikalische Code stellt ihm zusätzliche Kapazität im Arbeitsspeicher zur Verfügung (das Wort wird an anderer Stelle als Klangbild zwischengespeichert), wenn Leseaufgaben hohe Anforderungen an den Speicher stellen.

Berücksichtigt man die Komplexität der Zeichen-Klang-Beziehungen (unterschiedliche Schreibweisen des selben Aussprache, z. B. beim Laut /k/: core, fake, back, bouquet, khaki, echo), dann ist anzunehmen, dass die Erkennung von Wörtern, die die Identität der Morpheme bewahren (exception/except), schneller erfolgen sollte als von Wörtern, die dies nicht tun (description/describe).


3 Lexikalische Strukturen und der Zugriff darauf

Der Leser greift in jedem Falle auf etwas zurück, dass man "lexikalisches mentales Lexikon" nennen kann. Hier sind die Bedeutungen (semantische "word-concepts") von Wörtern gespeichert sowie ihre grammatischen und mögliche syntaktischen Rollen. Darin spiegelt sich auch das Wissen des Lesers von der Welt wieder.

Bedeutungen und ihre Features (Kennzeichen) sind in einem Netzwerk verbunden und werden von den verschiedenen Prozessen beim Lesen aktiviert. Dabei wird davon ausgegangen, dass Sätze den Aktivierungsgrad von Wörtern heben oder senken können. Z. B. hebt der Satz "Ich mag meinen Kaffee mit Milch und ..." den Aktivierungsgrad des Wortes "Zucker".

Den Zugriff auf das Lexikon erklärt sich mit zwei Modellen:

  • Suchen: Das Lexikon ist sortiert, z. B. nach Worthäufigkeiten
  • Direkter Zugriff: Das Lexikon ist indexiert, z. B. anhand der Orthographie

Welche Features des Wortes werden aktiviert? Manche Features ergeben sich aus der Orthographie. Beispiel: "erlebnisreich" nimmt der Leser in die Bestandteile "Erlebnis" und "reich" auseinander ("lexikal decomposition", nach CARPENTER/JUST) und aktiviert das entsprechende Feature in seinem Wortkonzept von "Erlebnis".

Ähnliches geschieht bei zusammengesetzten Worten. Der individuelle mentale Stellenwert des Features beeinflusst die Aktivierung ebenso bzw. erhöht den Aktivierungsgrad. Manche Features werden automatisch aktiviert, andere bewusst.


4 Buchstabenweises Prozessieren

Man geht nach CARPENTER/JUST davon aus, dass ein Wort Buchstabe für Buchstabe prozessiert wird. Je länger das Wort, desto länger dauert die Verarbeitung.

Es ist jedoch wie erwähnt auch eine parallele Verarbeitung der einzelnen Buchstaben eines Wortes denkbar. Indiz: Sinnlos aneinandergereihte Buchstaben ("non-word") sind schwieriger zu verarbeiten als ein sinnvolles Word.

Unwahrscheinlich ist demnach, dass Wörter jeweils als Ganzes über ihre Gestalt aufgenommen werden. Darauf deutet hin, dass Leser nur 10 Millisekunden länger brauchen, Wörter zu lesen, die in ihrer Gestalt verändert sind, z. B. in GROßBUCHSTABEN stehen oder im sTäNdIgEn Wechsel von Klein- und Großbuchstaben dargeboten werden.

Als Kontexteffekte in der Buchstabenaufnahme ist der Word-Superiority-Effekt (Superiority = Überlegenheit) zu nennen. Ein Buchstabe in einem Wort wird besser aufgenommen als ein Buchstabe in einem Non-Word und besser als ein alleinstehender Buchstabe. Möglicher Grund: Der Prozess der Wortaufnahme aktiviert die Buchstabenaufnahme. Steht ein Wort allerdings nicht allein, sondern in einem Text, sind Buchstabenabweichungen schwieriger zu erkennen (z. B. ein Druckfehler in einem Text).


5 Wie ist Wissen organisiert?

Beim Lesen wird auf früheres Wissen zurückgegriffen. Dabei soll kurz auf die Frage eingegangen, wie das Wissen im mentalen Lexikon gespeichert ist.

Wissen wird hier modelliert als ein Schema mit Slots, in die Information gefüllt werden. Bei jedem Satz ruft der Leser ein Schema hervor, mit definierten, aber (noch) nicht attributierten "slots". Die semantische Information wird in diese Slots eingefügt.

Zur Verarbeitung der Informationen werden auch Propositionen benutzt. Eine Proposition ist eine abstrakte Bedeutungseinheit, eine Vorstellung, die eine Beziehung zwischen Konzepten, Gegenständen oder Ereignissen ausdrückt. Sie ist die kleinste Wissenseinheit, kleinste Bedeutungseinheit. Sie stellt eine Behauptung auf, mittels eines Subjekts und eines Prädikats.

Beispiel: "Peter ist klein". Proposition: Peter (Subjekt) = klein (Prädikat). Ein springender Punkt hierbei ist, dass der Leser z. B. den Satz "Peter ist nicht groß" mit der selben Proposition aufnimmt ("Peter ist klein"). Man vermutet, dass Propositionen nonlinguistisch repräsentiert werden.

Propositionen können beim Lesen verschieden akzentuiert sein. Beschreibt ein Text eine Information für eine Proposition ausführlicher ("Peter ist klein wie eine Maus"), wird diese Proposition eher von dem Leser benutzt/wachgerufen. Zudem hat man festgestellt, dass ein Text umso schwieriger ist, je mehr Propositionen er enthält.


6 Syntaktische Analyse

Die syntaktische Analyse verwandelt die lineare Folge von Buchstaben (decodiert in der Worterkennung) in eine komplexere Struktur.

Die syntaktische Analyse hilft, die Wörter eines Satzes im Arbeitsspeicher zusammenzuhalten, in angemessenen Gruppierungen, während die Bedeutung des Satzes prozessiert wird. Syntaktische Analyse nutzt mehrere Klassen von Hinweisgebern, um die Beziehungen zwischen den Wörtern zu klären. Zu den Hinweisgebern gehören die Wortreihenfolge, Wortklassen, Affixe und die Interpunktion. Z. B. weist eine Proposition darauf hin, dass ein Proportionalsatz folgt. Aber mehrere Hinweisgeber zusammen stellen multiple Einschränkungen zur Verfügung, um zu bestimmen, wie verschiedene Teile eines Satzes zusammenhängen.

Syntaktische Bedeutung wird bedingt von den Einschränkungen, die die Kapazität das Arbeitsgedächtnisses mit sich bringt. Einige Navigationsstrategien minimieren diese Beschränkungen.

Ebenso wie in der semantischen kann es auch bei der syntaktischen Analyse zu Mehrdeutigkeiten kommen, die ähnlich geklärt werden. Auch hier werden Strategien der sofortigen Interpretation genutzt. Z. B. in Worten oder Sätzen, die syntaktisch mehrdeutig sind, scheinen Leser eine syntaktische Interpretation sofort zu suchen und die Notwendigkeit zu eliminieren, zwei sich entwickelnde Repräsentationen zwischenzuspeichern.

Sätze mit langen Unterbrechungen zwischen syntaktisch zusammenhängenden Einheiten (Schachtelsätze) sind oft schwierig zu verstehen.

Der Sprecher behält offenbar einen Satz wortwörtlich, bis die Interpunktion das Ende des Satzes markiert. Die Bedeutung eines Satzes speichert der Leser aber meistens länger. Die exakten Wortfolgen werden allerdings behalten, wenn sie einen emotionalen Aspekt haben, z. B. eine Beleidigung oder eine Herausforderung. Zudem gibt es kulturelle Unterschiede. Leser, die in Kulturen aufgewachsen sind, in denen das Behalten von Wortfolgen, z. B. aus religiösen Gründen, sind besser in der Lage, Wortfolgen länger zu behalten.

7 Semantische Analyse

Um Schrift verstehen zu können, muss ein Leser ihre Bedeutung in seinem mentalen Lexikon aktivieren. Dies dauert umso länger, je weniger häufig das Wort vorkommt.

Die semantische Analyse erfolgt unter drei Aspekten:

  • Informationen über das Prädikat, eine Handlung oder einen Zustand (hauptsächlich geliefert von Verben)
  • Informationen über die Argumente oder Akteure der Aktion (werden von Nomen gegeben)
  • Informationen über Umstände wie Zeit und Ort (aus unterschiedlichen Quellen, hauptsächlich aus dem Zusammenhang und Adverbien wie oder Propositionen)

Die Reihenfolge, in der diese Arten von Informationen semantisch analysiert werden, hängt von der Komposition des Satzes ab.


8 Referentielle Repräsentation = Textverstehen

Die referentielle Repräsentation soll die Hauptinformation vermitteln, die der Schreiber dem Leser mitteilen will. Sie integriert alle Informationen der Sätze eines Textes. Früheres Wissen von der Welt spielt eine große Rolle in der Konstruktion der referentiellen Repräsentation. Das Verstehen eines Textes verlangt eine komplette und detaillierte Repräsentation.

Die referentielle Repräsentation kann ein Bild sein, eine Information über Objekte oder Aktionen enthalten. Sie enthält keine Wörter, sondern wird symbolisch (durch Propositionen) repräsentiert. Die referentielle Repräsentation wird ausgelöst von bestimmten Signalwörtern. Z. B. "anaphoric words" (ich, er, es - Personalpronomen). Die Wörter lösen auch je nach Kontext verschiedene Referenzen aus. Zum Beispiel kann das Wort "rot" im Kontext "Feuer", "Frau" oder "Blatt" unterschiedlich repräsentiert werden.

Wenn ein Leser einen Text gelesen hat, erinnert er sich am ehesten an die referentielle Repräsentation, die der Text in ihm bewirkt hat. Ein Leser erinnert sich eher an eine Situation, die beschrieben wird, als an den Text, der sie beschreibt.

Eine wiederholte Referenz in einem Text stellt auch eine Kohärenz her. Wenn der Leser die Referenz einer Passage nicht erkennen kann, ist sein Verständnis oberflächlich. Eine weitere Möglichkeit des oberflächlichen Verständnisses: Der Leser bemerkt eine faktische Inkonsistenz in einem Text nicht, wenn der Bezug nicht hergestellt wird.

Das Lesephänomen, dass man liest, ohne etwas zu verstehen (Tagtraum) kann damit erklärt werden, dass die syntaktische und semantische Analyse funktioniert, die referentielle Repräsentation aber nicht funktioniert.

Referentielle Repräsentation kann "Verständnislücken" in einem Text füllen und die Beziehungen zwischen den Teilen anzeigen. Die referentielle Ebene eines Textes zu verstehen entspricht dem Verstehen der referentiellen Repräsentation, die der Text beschreibt. Z. B. verlangt das Verstehen eines Textes über ein Schachspiel viele der Verstehensprozesse, die man zum Betrachten des Schachspiels selbst benötigt. Die referentielle Ebene zu verstehen ist ein genereller kognitiver Prozess.

9 Wie der Leser Mehrdeutiges erkennt

Wissen ist nach dem kognitiven Ansatz nicht jeweils als Einzelinformation abgebildet, sondern in "Informationsbrocken" (Schemata) eingeordnet, die miteinander verbunden sind (Netzwerke). Das erklärt, warum der Leser Worte mit unterschiedlichen Bedeutungen im Sinnzusammenhang erfassen kann. Z. B.:

"Das Schloss ..." (Gebäude oder Türschloss?) "... steht auf einer Anhöhe."

Im Prozess des Findens der kontextuell richtigen Bedeutung eines mehrdeutigen Wortes werden alle möglichen Bedeutungen eines Wortes temporär aktiviert. Das nimmt nur wenige Hundert Millisekunden in Anspruch. Der Selektionsprozess ist sehr effektiv, weil er eine große Menge relevanter Information berücksichtigt, die heuristisch angewandt werden:

  • viele Ebenen der Analyse (einschließlich lexikalisch, semantisch, syntaktisch und diskursiv)
  • die relative Häufigkeit von verschiedenen Wortbedeutungen, basierend auf vorangegangenen Spracherfahrungen und indexiert nach Aktivierungsgrad
  • Der Leser kann auch später durch den Kontext falsche Wortbedeutungs-Wahlen entdecken, solange kein Themenwechsel im Text erfolgt.

Damit kann auch erklärt werden, warum der Leser verschiedene Stellen in einem Text miteinander verbinden kann. zum Beispiel: "Der Garten ist sehr schön" - er bezieht es aufs Schloss.

Versteht ein Leser einen Text nicht, kann es daran liegen, dass er keine entsprechenden Schemata gespeichert hat. Längere Texte, zum Beispiel Märchen, können auch ein eigenes Schema produzieren. Dies wirkt auf das Verständnis, das Lernen und das Erinnern.


10 Textsorten

Um einen Text im Zusammenhang zu verstehen, also mehr als einen Satz, spielt das Wissen des Lesers eine große Rolle. Z. B. sagt einem Leser sein Wissen (Schema) über Märchen, dass ein Held, der einem Hindernis zum Ziel gegenübersteht, versuchen wird, es zu überwinden. Aufgrund seines bisherigen Wissens wird ein Leser ebenfalls wissen, welche Ziele und Wege wahrscheinlich sind, die einen Held auszeichnen.

Das Schema kann anzeigen, wie verschiedene Informationen in Beziehung zu einander stehen und kann Basiswerte für Information liefern, die nicht explizit im Text erwähnt werden. Das Verständnis aller Textarten beinhaltet früheres Wissen von Textstrukturen und Inhalten.

Dieses Wissen eines Lesers kann benutzt werden, um ihm zu helfen, die Komponenten einer Geschichte zu klassifizieren und die einzelnen Komponenten miteinander in Beziehung zu setzen.

  • Erzählende Texte lösen besonders die Prozesse aus, die Kausalrelationen auslösen.
  • Beschreibende Texte lösen besonders die Konstruktionen von referentiellen Repräsentationen aus
  • Wissensvermittelnde Texte prozessieren logische und hierarchische Beziehungen zwischen den Elementen eines Texts


11 Lesen und Lernen

Die refentielle Repräsentation erlaubt einen guten Rückgriff (Lernen, Erinnern) auf den Text.

Schemata spielen auch eine große Rolle beim lesenden Lernen, weil sie helfen, Informationen zu organisieren: in Kategorien unterschiedlicher Wichtigkeit. Während der Wiederholung kann das Schema benutzt werden als Rückholplan, indem es den Inhalt von wichtigen und unwichtigen Slots differenziert und es sehr unwahrscheinlich macht, dass der Leser unwichtige Leser wiederholt, die nicht in eine dieser Slots passen.

Zwischen dem Leseverständnis und dem Aneignen von Vokabeln. Leseverständnis beinhaltet viele semantisch und syntaktische Prozesse. Die selben Prozesse können benutzt werden, um die mögliche Bedeutung von Vokabeln abzuleiten, also über den Kontext oder über frühere Leseerfahrung.


12 Lesestörungen Aphasie und Dyslexie

Eine Brocasche Aphasie ist eine syntaktische Dysfunktion. Offensichtliches Symptom ist, dass der Betroffene langsam spricht und er viele Wortflexionen und Funktionswörter wie "das, er" nicht prozessieren kann. Sätze wie "Das Mädchen aß den Apfel" kann der Patient aber trotzdem verstehen.

Menschen, die an Dyslexie leiden, haben Probleme bei der Repräsentation von visuell dargeboten Sprachinformationen, automatisierte kognitive Prozesse beim Lesen auszuführen, die essentiell für das schnelle Aufnehmen von Text sind. Ihre sonstigen intellektuellen Fähigkeiten sind normal ausgebildet.


13 Lesen als systemischer Prozess

Nun hängen die beschriebenen Prozesse voneinander ab und greifen aufeinander zu. Dies könnte so geschehen, indem jeder einzelne Prozess das Ergebnis seiner Arbeit ablegt, in einer Art Arbeitsgedächtnis, und alle anderen Prozesse auf dieses Ergebnis für ihre eigene Arbeit zugreifen können.

Wie lange dieser Vorgang jeweils dauert, also wie schnell ein Leser liest, hängt entscheidend vom Vorwissen des Lesers ab (Schemata-Bildung), aber nach unserer Auffassung eben auch vom Leseabstand (Abstand der Augen zum Text), vom Zeilenabstand und der Buchstabengröße im Text sowie von der Geübtheit des Lesers, mehrere kurze Worte als eine Wortgruppe, auf einen Blick aufzunehmen. Diese Faktoren verdienen stärkere Berücksichtigung.


Frank Rosenbauer M. A.